Dunkle Materie
Sterne und Galaxien sind das, was du am Nachthimmel leuchten siehst – doch diese glitzernden Juwelen machen nur einen winzigen Teil der Materie im Kosmos aus. Es gibt noch mehr im Universum, als unsere Augen sehen können - sehr viel mehr.
Dieses Kapitel führt dich in das Konzept der Dunklen Materie ein und zeigt dir, welche Hinweise es auf die Existenz dieses merkwürdigen Stoffs gibt.
Schon in den 1930er-Jahren hatten Astronomen bemerkt, dass der größte Teil der Materie im Kosmos weder Licht aussendet, noch reflektiert, noch absorbiert.
Dieses unsichtbare Material, Dunkle Materie genannt, dient als universeller Klebstoff: Es verhindert, dass die Sterne der schnell rotierenden Spiralgalaxien auseinander fliegen, und sorgt dafür, dass sich die Galaxien zu stabilen Galaxienhaufen zusammenfinden können. Die Dunkle Materie ist wohl auch dafür verantwortlich, dass unser Universum heute so aussieht wie es aussieht: wie ein gigantisches Netzwerk aus geisterhaften Filamenten aus Superhaufen und riesigen Leerräumen dazwischen.
Astronomen haben herausgefunden, dass die atomare Materie, wie wir sie kennen nur ca. 5 Prozent des gesamten Kosmos ausmacht. Weitere 30 Prozent rechnet man zur Dunklen Materie und den grössten Teil, ca. 70 Prozent, zur Dunklen Energie.
Ein bemerkenswerter Gedanke: Das, was du in deinem Fernglas oder Teleskop leuchten siehst, ist nur ein winziger Bruchteil von dem, was es dort draußen gibt. Um einen maritimen Vergleich zu bemühen: Wenn die Galaxien der Schaum auf den Wellen sind, dann ist die Dunkle Materie der gewaltige Ozean, auf dem er treibt.
Erste Hinweise auf die Dunkle Materie
Der erste Hinweis auf die Existenz der Dunklen Materie tauchte im Jahr 1933 auf. Als der Schweizer Astronom Fritz Zwicky die Bewegungen der Galaxien in einem großen Galaxienhaufen in Richtung des Sternbilds Coma Berenices untersuchte, fiel ihm auf, dass einige ungewöhnlich schnell sind. Sie bewegen sich sogar so schnell, dass die sichtbare Materie der Galaxien den Haufen unmöglich mit ihrer Schwerkraft zusammenhalten kann – zumindest nicht nach den bekannten Gesetzen der Physik. Und doch bleibt der Haufen stabil. Der Coma-Haufen ist etwa 320 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt.
Zwicky schloss, dass eine Art unsichtbare Materie zwischen den Galaxien verteilt sein müsse, die die fehlende Gravitation bereitstellt.
Fritz Zwicky
Fritz-Zwicky-Stiftung Glarus
Doch viele Wissenschaftler erkennen eine neue Entdeckung, die zum ersten Mal von einer Person oder einem Team verkündet wird, zunächst nicht an. Sie verlangen nach unabhängigen Beweisen von anderen Forschern. So ist es nicht verwunderlich, dass Zwickys Entdeckung in den folgenden Jahrzehnten keine Schlagzeilen machte. Die meisten Astronomen ignorierten seine Arbeit oder dachten, dass sich die Notwendigkeit von unsichtbarer Materie nach einer genaueren Untersuchung des Galaxienhaufens schon in Luft auflösen werde.
Doch in den 1970er-Jahren fanden Astronomen weitere Hinweise auf die Existenz dieser unsichtbaren Substanz. Sie befand sich offenbar nicht nur zwischen den Galaxien eines Galaxienhaufens, sondern auch in den einzelnen Galaxien selbst. Die Sache wurde immer etwas unheimlicher. Man wusste nicht, womit man es zu tun hatte, konnte aber beobachten, dass da etwas ist. Wie wenn man eine wehende Fahne anguckt: den Wind, der die Fahne bewegt, kann man nicht direkt sehen; seine Wirkung, die er auf die Fahne hat, aber durchaus wahrnehmen.
Dunkle Materie lässt Sterne schneller kreisen
Vera Rubin und Kent Ford von der Carnegie Institution of Washington untersuchten Ende der 1960er-Jahre die Bewegungen von Hunderten von Sternen in Spiralgalaxien, als sie eine Entdeckung machten, die wie ein Schlag ins Gesicht der konventionellen Physik war. Eine typische Spiralgalaxie ähnelt einem Spiegelei: Der Großteil ihrer Sterne und Gaswolken konzentriert sich im Dotter (bei Galaxien »Bauch« oder englisch »bulge« genannt; Aufnahmen von Spiralgalaxien zeigen deutlich, dass die Dichte der sichtbaren Materie in den Spiralarmen nach außen stark abnimmt.
Vera Rubin
sciencenews.org
Die Astronomen nahmen an, dass die Sterne das Zentrum der Spiralgalaxie in gleicher Weise umlaufen wie die Planeten des Sonnensystems die Sonne: Die nämlich gehorchen Newtons Gravitationsgesetz, das dafür sorgt, dass sich die inneren Planeten stets schneller um die Sonne bewegen als die äußeren. Die Umlaufgeschwindigkeit von Merkur ist größer als die der Venus, die wiederum schneller kreist als die Erde und so weiter. Dementsprechend sollten sich auch die Sterne nahe des Zentrums einer Spiralgalaxie schneller bewegen als die in ihren Außenbereichen.
Das war aber nicht das, was Rubin und Ford beobachteten.
In jeder der von ihnen untersuchten Galaxien bewegten sich die äußeren Sterne genauso schnell wie die inneren. Wenn in den Außenbereichen aber so wenig Materie vorhanden war, wie schafften es diese Sterne, so schnell um das Zentrum zu kreisen, ohne davonzufliegen? Sie sollten mit ihren hohen Geschwindigkeiten der Anziehungskraft der Galaxie leicht entkommen können. Rubin hatte schon in einer früheren Untersuchung ähnliche Hinweise gefunden, doch viele Astronomen mussten noch überzeugt werden.
Im linken Bild ist dargestellt, wie sich die Sterne in einer Galaxie gemäss der bekannten physikalischen Gesetze bewegen sollten. Rechts wird die tatsächlich gemessene Geschwindigkeit gezeigt.
Der Gravitationslinseneffekt
Eine weitere Erscheinung von Dunkler Materie basiert auf dem bekannten Phänomen, dass Masse Raum und Zeit verbiegt: Sie zwingt gerade Lichtstrahlen auf gekrümmte Wege. Das führt dazu, dass ein massereiches Objekt im Vordergrund das Licht einer weit entfernten Galaxie verstärken, aber auch brechen kann, genau so, wie eine optische Linse das tut. Das nennt man den Gravitationslinseneffekt.
Astronomen nutzen diesen Effekt, um Dunkle Materie in Galaxien und Galaxiehaufen aufzuspüren. Befindet sich ein Galaxiehaufen von der Erde aus gesehen vor einer weiter entfernten Hintergrundgalaxie, krümmt er den Weg des Lichts der fernen Galaxie. Das Ergebnis ist ein verzerrtes und manchmal sogar vervielfachtes Bild dieser Galaxie. Der Gravitationslinseneffekt erzeugt in diesem Fall eine Reihe von Geisterbildern der Galaxie im irdischen Teleskop. Mit dem Hubble-Teleskop haben Astronomen eine Reihe von Galaxiehaufen gefunden, in denen die verzertten Geisterbilder von Hintergrundgalaxien als kurze, helle Bogen erscheinen.
Sogenannte "Einstein-Ringe": das Licht weit entfernter Galaxien wird durch die Masse der im Vordergrund liegenden Galaxien und der Dunklen Materie zu ringförmigen Bögen verzerrt.